Vom Arbeitskräfteabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei
vom Oktober 1961 profitierten in Köln vor allem die Ford-Werke. 1973
bereits war mehr als ein Drittel der Belegschaft türkischer Herkunft, sie
arbeiteten vor allem an den Fließbändern in der Endmontage. Als es im
August 1973 zu »wilden Streiks« der Türken bei Ford Köln kam, bekam das
Bild vom unterwürfigen, für jede Drecksarbeit dankbaren Gastarbeiter die
ersten Kratzer. Serhat Karakayali von Kanak Attak fügt ihm weitere hinzu
und erzählt die Geschichte des 73er Streiks.
Wenn man in den 50er und 60er Jahren einen Unternehmer fragte, warum er
GastarbeiterInnen beschäftige, so war als Antwort nicht selten zu hören,
sie seien fleißiger, seltener krank und insgesamt anspruchsloser. Auch die
Analysen linker Gruppen bis hinein ins Gewerkschaftslager folgten dieser
Einschätzung: Die ausländischen ArbeiterInnen würden von den Unternehmen
eingesetzt, um die Löhne niedrig zu halten. Tatsächlich hat der Zustrom
von Millionen zusätzlichen Arbeitskräften ein zentrales Druckmittel der
Gewerkschaften im Lohnkampf unterlaufen. Die auf dem deutschen
Arbeitsmarkt drohende Knappheit der Ware Arbeitskraft hätte möglicherweise
zu einer Erhöhung des Lohnniveaus führen können.
Obwohl die Kanaken vielerorts bald den Beweis antraten, dass sie so
brav nicht waren, hat sich die Mär vom zuverlässigen und treuen Ausländer
lange gehalten. Ein Grund dafür ist die kollektive Amnesie, unter der die
lange Geschichte migrantischer Kämpfe in Deutschland begraben liegt. Der
vielleicht bekannteste unter diesen unbekannten Kämpfen war der so
genannte Türkenstreik in den Ford-Werken in Köln-Niehl im August 1973.
Doch auch er ist inzwischen fast dem Vergessen anheim gefallen: Die Suche
nach historischer Aufarbeitung in der wissenschaftlichen Literatur zeitigt
wenig Erfolge, ein Anruf im historischen Archiv der Ford-Werke Köln
ergibt, dass zwar die damalige Tagespresse gesammelt ist, jedoch keine
betriebsinternen Akten ausgewertet wurden; in den Personalzeitungen aus
jener Zeit findet man nichts.
Auslöser des »Türkenstreiks« war die fristlose Entlassung von 300
türkischen Arbeitern, die ihren vierwöchigen Jahresurlaub eigenmächtig
verlängert hatten. Aber es ging um mehr als das. Bereits im Frühjahr war
es in vielen Betriebsversammlungen zu Unmutsbekundungen der Arbeiter,
unter ihnen auch viele Türken, gekommen. Auf Unterschriftenlisten hatten
sie die Vertrauensleute der Gewerkschaft aufgefordert, sich für
Lohnerhöhungen einzusetzen. Von der Forderung nach 50 bis 70 Pfennig mehr
pro Stunde blieb nach den folgenden Vertrauenskörpersitzungen jedoch nur
noch die abstrakte Aufforderung an die Gewerkschaft übrig, den geltenden
Tarifvertrag vorzeitig zu kündigen. So konnten die Kanaken beobachten, wie
die Gewerkschaftsbürokratie ihren Willen in homöopathische Dosen
verdünnte. Die kanakischen Arbeiter mussten die monotonsten und
gefährlichsten Arbeiten ausführen und wurden dafür schlecht bezahlt. Als
Arbeiter an der Bandstraße verdienten die meisten Türken einen Stundenlohn
zwischen 7,15 und 8,24 Mark, während die Deutschen als Facharbeiter
zwischen 8,98 und 10,59 Mark verdienten.
Dies war der Hintergrund und wohl die eigentliche Ursache der Revolte
von 1973. Anhand von Gesprächen mit Zeitzeugen, Streikberichten und
Flugschriften lässt sich der »wilde Streik« in den Ford-Werken, der von
Freitag, den 24. August bis Donnerstag, den 30. August andauerte,
rekonstruieren:
Auf einer Betriebsversammlung eine Woche vor Beginn des Streiks
erklärten sich die türkischen Arbeiter solidarisch mit den Entlassenen,
während die Mehrheit der deutschen Kollegen die Entlassungen und
Disziplinarverfahren zum Teil applaudierend befürwortete. Den Deutschen,
die als Vorarbeiter, Fertigmacher oder Meister vor allem vorgesetzte
Funktionen im Betrieb innnehatten, erschienen die Entlassungen
gerechtfertigt: Sie selbst waren immer pünktlich gewesen, sollte das nicht
auch für die anderen gelten? Zum anderen hatten sie wenig Verständnis für
die Situation der türkischen Kollegen, die von den vier Wochen Werksurlaub
zehn Tage auf der An- bzw. Abreise verbrachten, wodurch ihnen nicht mal
drei Wochen bei der Familie blieben. Dennoch waren zu Beginn auch deutsche
Kollegen an dem Streik beteiligt, wenn auch zögerlich.
Als klar wird, dass die durch die Entlassungen entstehende Mehrarbeit
auf die Verbliebenen umverteilt werden sollte, wächst der Unmut unter den
Arbeitern. Viele fluchen laut vor sich hin, die Stimmung ist gereizt, aber
die Arbeit geht weiter. Bis ein Türke mit dem Ruf »Kollegen, wie lange
sollen wir uns das gefallen lassen?!« die Barriere durchbricht. Innerhalb
weniger Minuten streikt die gesamte Endmontage-Halle. Im Laufe des Tages
zieht ein Demonstrationszug durch das ganze Werk. Am Abend dieses 24.
August versammeln sich einige Tausend auf dem Werksgelände, zu diesem
Zeitpunkt standen drei Forderungen im Zentrum: Zurücknahme der
Entlassungen, eine Mark mehr pro Stunde für alle und die Herabsetzung der
Bandgeschwindigkeit. In den nächsten zwei Tagen weitet sich der Streik
innerhalb der Ford-Werke aus. Eine Gruppe deutscher Linker namens »Kölner
Fordarbeiter« verteilt in Wohnheimen und im Betrieb Flugblätter, auf denen
weitere Forderungen aufgestellt werden, u.a. die Verlängerung des
bezahlten Urlaubs auf sechs Wochen.
Gleichzeitig führt der Betriebsrat Verhandlungen mit der
Geschäftleitung. Ab Montag, dem 27.8., kommt es zur Wende im Streik, denn
es zeichnet sich ab, dass die Verhandlungen zu keinem Ergebnis führen und
der Betriebsrat von der Mehrheit der Arbeiter ohnehin nicht mehr als
legitime Vertretung akzeptiert wird. Die Bemühungen des Betriebsrates
wurden vor allem von den türkischen Streikenden bestenfalls verhöhnt, da
er den Streik mit Verweis auf das Betriebsverfassungsgesetz und die
tarifliche Friedenspflicht nicht unterstützen wollte. Als ein türkischer
Betriebsrat die Streikenden aufforderte, wieder an die Arbeit zu gehen
wird er ausgepfiffen und mit äpfeln beworfen. Von den Türken wurde die
Parole »Sendika satilmis« geprägt: die Gewerkschaft ist käuflich.
In den Medien war bis zu diesem Zeitpunkt von einer zwar illegalen,
aber verständlichen Arbeitsniederlegung gesprochen worden. Zentral war
dabei offenbar, dass sich bisher auch deutsche Kollegen dem Streik
angeschlossen hatten. Die Frankfurter Rundschau (FR) berichtete am 27.8.
noch, die Geschäftsleitung schließe nicht aus, dass »auch deutsche
Arbeiter die Forderung ihrer türkischen Kollegen unterstützen« und der
Kölner Stadt-Anzeiger berichtet am selben Tag über die »Bemühungen des
Bundeskanzlers, die Forderungen der Metallarbeiter in geregelte Bahnen zu
lenken.« Nachdem auf einer Versammlung eine unabhängige Streikleitung
gewählt worden war, hatten Geschäftsleitung und Betriebsrat offenbar ihre
Strategie geändert. übers Wochenende wurden die Arbeiter der Spätschicht
über Radio, Fernsehen und sogar in Durchsagen in den Straßenbahnen
aufgefordert, nicht zur Arbeit zu erscheinen. Die Geschäftsleitung wollte
den Streik durch Reduzierung des Streikpersonals beenden. Denn es wurde
entgegen der deutschen Gewerkschaftstradition nicht von »zu Hause aus«
gestreikt. Die Türken, einige Italiener und nur noch wenige Deutsche
übernachteten im Polsterlager des Ford-Werkes und organisierten den Streik
von hier aus.
Danach aber setzte eine Politik der Spaltung ein. Gewerkschaft und
Betriebsrat organisierten eigene Demonstrationen und konnten die Mehrheit
der deutschen KollegInnen für sich gewinnen. Am Mittwoch, den 29.8.,
standen von den Deutschen nur noch Lehrlinge und jüngere Aushilfsarbeiter
auf der Seite der Streikenden. Die radikale Haltung der Arbeiter, hieß es
nun, sei durch »fremde Kräfte« geschürt. Die BILD-Zeitung flüsterte von
»6-8 Kommunisten, die sich getarnt in Monteursmänteln in das
kilometerweite Werksgelände eingeschlichen haben.« (29.8.73) Auch der
Betriebsratsvorsitzende Lück erklärte im Express, »der ehemalige
Radikalen-Tummelplatz Universität sei vielerorts in die Betriebe
verlagert« worden. überschriften wie »Türken-Terror bei Ford« und
»übernehmen die Gastarbeiter die Macht?« dokumentieren, wie der
Arbeitskampf in eine Art Krieg der Mentalitäten umgedeutet wurde.
Plötzlich ging es nicht mehr um Lohnforderungen, Entlassungen und
Arbeitsbedingungen, sondern um die Ausländer, die das deutsche Tarifsystem
nicht richtig verstehen. Der Express hatte jedenfalls eine Erklärung für
das Verhalten der Türken, von denen man ja eigentlich angenommen hatte,
sie seinen besonders autoritätsgläubig, fleißig und diszipliniert: »Zwar
ist der Türke kein böser Türke. Doch ist er ein enttäuschter Freund, fast
schon ein enttäuschter Liebhaber.« (29.8.1973)
Der damalige SPD-Innenminister von NRW, Willi Weyer, erklärte, die
bestreikten Betriebe würden »zum Teil von Kriminalpolizei und Beamten des
Verfassungsschutzes beobachtet« werden (FR, 29.8.01). Auch die
Bundesregierung, die mittlerweile Dringlichkeitssitzungen mit
Gewerkschafts- und Arbeitergeberverbandsspitzen abhielt, sah
Handlungsbedarf. In einer Fernsehrede am 28.8. appellierte Bundeskanzler
Willy Brandt an die Streikenden, in den Schoß der Gewerkschaften
zurückzukehren, denn »wer hat denn in jahrzehntelangen Kämpfen die Rechte
der Arbeitnehmer durchgesetzt und erweitert?« Diese waren aber durch
solche Ansprachen nicht zu erreichen. Die Geschäftsleitung beendete
schließlich nach knapp einer Woche den Streik gewaltsam, indem unter dem
Schutz einer »Gegendemonstration« von so genannten Arbeitswilligen in
Meisterkitteln Polizeikräfte auf das Werksgelände eindrangen und damit
begannen, »Rädelsführer«, d.h. die Streikleitung, zu verhaften. Unter den
Verhafteten ist Baha Targün, den die Türken als Ersten in das
Streikkomittee gewählt hatten. Er wird später ausgewiesen werden, seine
Spur verliert sich in der Türkei. Am Abend patroullierten jene
Arbeitswilligen vom Morgen als »Arbeiterschutzstreifen über das
Werksgelände, um Versammlungen aufzulösen. über 100 türkische Arbeiter
wurden fristlos entlassen, etwa 600 nahmen das Angebot an, die fristlose
in eine »freiwillige« Kündigung umzuwandeln. Viele erschienen aus Wut,
Frust oder Angst nicht zur Arbeit oder weil sie die Erniedrigung nicht
ertragen wollten. Es ist kein Fall bekannt geworden, in dem der
Betriebsrat gegen eine Entlassung Einspruch eingelegt hätte.
Der Streik war letztlich an der Spaltung in Deutsche und Ausländer
gescheitert. Werksleitung, Betriebsrat und Medien hatten es nach und nach
geschafft, die ohnehin schon strukturell unterschiedlichen Interessen,
ideologisch zu verfestigen.
Die deutschen Arbeiter hatten die besseren Jobs und verdienten mehr,
warum sollten sie also streiken? Den Streikenden wiederum war es nicht
gelungen, diese Logik zu durchbrechen. Vielleicht wäre es gelungen, die
Spaltung zu überwinden, wenn man sie nicht bloß als ideologische
Verblendung betrachtet hätte. Denn der Rassismus war vielmehr materiell
fundiert, d.h. in der bundesdeutschen ökonomie wurde mit den Kanaken die
Segmentierung des Arbeitsmarkts rassistisch strukturiert.
Für die Linken damals war die Spaltung so etwas wie ein konspirativer
Trick der herrschenden Klasse. Natürlich waren die kanakischen Arbeiter in
einer besonderen Lage, aber das wurde eben als eine Art Zufall gesehen.
Die Arbeiterklasse war doch seit jeher eigentlich international. Von
Rassismus, geschweige denn strukturellem, wusste man nicht viel. Die
Analyse mancher linker Kleinstgruppe neigte entsprechend ins Peinliche. So
schrieb die »Kommunistische Initiative« in einem Flugblatt »Deutsche
Kollegen! Ihr dürft die türkischen Kollegen nicht im Stich lassen. Es geht
nicht nur um euer Geld, es geht um eure Ehre!« (29.8.73). Die meisten
dieser Gruppen wie KPD, KPD/ML oder KBW waren an dem Streik gar nicht
beteiligt, und lieferten nur jede Menge Flugblätter, manchmal aber auch
Zigaretten und Essen. Innerhalb des Ford-Werks hatte die »Gruppe
Arbeiterkampf« am meisten mit den türkischen Kollegen zusammengearbeitet
und den Streik mitgetragen. Abgesehen von ihrer Bewunderung für die
angeblich soldatische Kampfdisziplin der Türken (»Zwei Jahre Drill in der
Armee habe ein solidarisches Bewusstsein geschaffen.«), entwickelten sie
ein weitgehend unverkrampftes Verhältnis zu den Kanaken. Der gemeinsame
Kampf war mehr als nur eine Erfahrung. Für die betrieblich orientierte
Sponti-Linke in West-Deutschland waren die Kanaken eine Art Avantgarde. Im
gleichen Jahr hatte die Münchner »Gruppe Arbeitersache« bei Streiks in den
BMW-Werken festgestellt: »Zum Beispiel, dass Politik heißt, den
Lebenzusammenhang einbeziehen; dass man mit den Arbeitern leben, feiern,
singen und nicht nur diskutieren kann.«
Sechs bis acht Kommunisten, getarnt in Monteursmänteln
Serhat Karakayali in
Stadtrevue Oktober 2001