Eric Hobsbawm, Identitätspolitik und die Linke Mein Vortrag han-delt von einem erstaunlich neu-en Gegenstand. Wir haben uns an Begriffe wie "kollektive Identität", "ldentitätsgruppen", "ldentitätspo-litik" oder aber "Ethnizität" so sehr gewöhnt, dass es schwerfällt, sich daran zu erinnern, vor welch kurzer Zeit sie als Teil des Vokabulars oder Jargons des politischen Diskurses auftauchten. Wer beispielsweise in die 1968 veröffentlichte und Mitte der sechziger Jahre verfasste interna-tionale Enzyclopedia of the Social Sciences einen Blick wirft, wird un-ter Identität keinen Eintrag finden, lediglich einen über psychosoziale Identität von Erik Erikson - der sich vor allem mit solchen Fragen wie der sogenannten "ldentitätskrise" Her-anwachsender beschäftigt, die ver-suchen herauszufinden, wer sie sind -; sowie ein allgemeiner Beitrag über Wähleridentifikation. Der Begriff "Ethnizität" taucht im Oxford Eng-lish Dictionary der frühen siebziger Jahre lediglich als seltenes Wort auf, das "Heidentum und heidnischen Aberglauben" bezeichnet und mit Textbelegen aus dem achtzehnten Jahrhundert dokumentiert wird. Das heißt, wir haben es mit Begrif-fen und Konzepten zu tun, die sich erst in den sechziger Jahren durch-setzten. Ihr Auftauchen kann am einfachsten in den USA verfolgt werden. Das hängt zum Teil damit zusammen, dass diese Gesellschaft immer besonders daran interessiert gewesen ist, ihre soziale und psy-chologische, Temperatur, ihren Blutdruck sowie andere Symptome zu messen. Ausschlaggebend ist je-doch, dass die offensichtlichste, wenn auch nicht die einzige Form der Identitätspolitik, die ethnicity in der amerikanischen Politik im-mer eine zentrale Rolle spielte, seit in dem Land die Massenemigration aus allen Teilen Europas einsetzte. Die neue ethnicity tritt 1963 mit Glazers und Moynihans Beyond the Melting Pot erstmals auf und wird mit Michael Novaks The Rise of the Unmeltable Ethnics im Jahre 1972 zu einem politischen Pro-gramm. Das erste Buch war die Ar-beit eines jüdischen Professors und eines Iren, der jetzt Senator der De-mokratischen Partei für, New York ist, das zweite Buch wurde von ei-nem Katholiken slawischer Her-kunft verfasst. Für den Augenblick brauchen wir uns nicht zu fragen, warum all dies in den sechziger Jah-ren geschah; ich möchte aber daran erinnern, dass zumindest in den stil-bildenden Vereinigten Staaten die-ses Jahrzehnt auch die Entstehung zweier weiterer Varianten der Iden-titätspolitik erlebte: die moderne Frauenbewegung, das heißt nach dem Kampf um das Stimmrecht, so-wie die Schwulenbewegung. Ich sage damit nicht, dass sich vor-her niemand Fragen nach seiner ei-genen Identität stellte. In Situatio-nen der Verunsicherung ist dies ge-legentlich der Fall gewesen; etwa im französischen Industriegürtel Loth-ringens, wo offizielle Sprache und Nationalität innerhalb eines Jahr-hunderts fünfmal wechselten und dessen ländliche Lebensformen sich in industrielle und halburbane ver-wandelten, während die Grenzlinien des Gebietes in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten sieben mal neu gezogen wurden. Es ist kein Wunder, dass die Menschen sagten: "Berliner wissen, dass sie Berliner sind. Pariser wissen, dass sie Pariser sind, aber wer sind wir?" Oder um ein anderes Interview zu zitieren: Ich komme aus Lothrin-gen, meine Kultur ist deutsch, mei-ne Nationalität französisch und ich denke in unserem regionalen Dia-lekt." (1) Dies führte nur dann zu Identitätsproblemen, wenn die Menschen davon abgehalten wur-den, multiple, kombinierte Identi-täten zu praktizieren, die für die meisten von uns natürlich sind. Das galt um so mehr, wenn sie von Ver-gangenheit und gemeinsamer kultureller Praxis abgeschnitten wa-ren. (2) Doch waren die Probleme mit unsicheren Identitäten bis in die sechziger Jahre keine besonderen Grenzlinien der Politik. Ihnen kam noch keine zentrale Bedeutung zu. Seit den sechziger Jahren steht Iden-titätspolitik sehr viel stärker im Zentrum. Warum? Es gibt natürlich einzelne Gründe in der Politik und den Institutionen des einen oder anderen Landes: etwa die in den USA durch die Verfassung gesetz-ten Verfahren oder beispielsweise die Rechtsprechung zu den Bürger-rechten der fünfziger Jahre, die sich zunächst auf Schwarze bezogen, später auf Frauen ausgeweitet wur-den und damit ein Modell für ande-re Identitätsgruppen boten. Hinzu kommt, dass in Ländern, in denen politische Parteien um Wählerstim-men konkurrieren, das Bekenntnis zu einer solchen Identitätsgruppe konkrete politische Vorteile ver-schafft, wie etwa die positive Dis-kriminierung zugunsten der Mit-glieder solcher Gruppen, Jobquo-ten und so weiter. Dies ist in den USA der Fall, aber nicht nur dort. In Indien beispielsweise, wo die Re-gierung versucht, soziale Gleichheit herzustellen, kann es sich unter Umständen auszahlen, sich als zu einer niedrigen Kaste zugehörig auszugeben oder einer einheimi-schen Stammesgruppe anzugehö-ren, um besonderen Zugang zu Ar-beitsplätzen zu erhalten, die sol-chen Gruppen garantiert werden. Doch ist meiner Ansicht nach das Auftauchen der Identitätspolitik eine Konsequenz außergewöhnlich schneller und tiefgreifender Um-wälzungen und Transformationen der Gesellschaften während des dritten Viertels dieses Jahrhun-derts, um deren Beschreibung und Verständnis ich mich im zweiten Teil meiner Geschichte des "Short Twentieth Century", The Age of Extremes bemüht habe. Dies ist nicht allein meine Einschätzung. Der amerikanische Soziologe Dani-el Bell meinte 1975, dass "das Auf-brechen traditioneller Autoritäts-strukturen und der bisherigen af-fektiven sozialen Einheiten - ge-schichtlich als Nation und Klasse ... ethnische Zuordnungen stärker hervortreten ließen." (3) Doch wissen wir, dass sowohl die Nation als auch die alten, klasseno-rientierten Parteien und Bewegun-gen durch die Transformationen geschwächt worden sind. Mehr noch: Wir durchleben eine giganti-sche , Kulturrevolution', eine au-ßergewöhnliche Auflösung tradi-tioneller Sozialnormen, -gefüge und Werte, die so viele Einwohner der industrialisierten Welt verwaist und verlassen hinterlässt. Ich erlau-be mir, mich selbst zu zitieren: "Niemals ist das Wort , Gemein-schaft' undifferenzierter und in-haltsloser benutzt worden als in den Jahrzehnten, in denen Gemein-schaften im soziologischen Sinne im wirklichen Leben nur noch sehr schwer zu finden waren." (4) In einer Weit, in der alles andere in Bewe-gung und Veränderung begriffen ist, in der nichts sicher erscheint, blicken sich Männer und Frauen nach Gruppen um, in die sie sicher und für immer gehören können. Daher das merkwürdige Paradox, welches der brillante und übrigens karibische Harvard-Soziologe Or-lando Patterson identifiziert hat: Menschen entscheiden sich, zu ei-ner Identitätsgruppe zu gehören, aber "es ist eine Wahl, die von dem festen, intensiv gehegten Glauben präjudiziert ist, dass das Individu-um absolut keine andere Möglich-keit hat, als zu dieser besonderen Gruppe zu gehören." (5) Dass es eine Wahl gibt, kann gelegentlich de-monstriert werden. Die Zahl der Amerikaner, die sich als "amerika-nische Indianer" oder "einheimi-sche Amerikaner" registrieren las-sen, vervierfachte sich zwischen 1960 und 1990 von etwa einer hal-ben Million auf zwei Millionen. Dies ist bei weitem mehr, als demo-graphisch erklärt werden könnte und da 70% der "einheimischen Amerikaner" außerhalb ihrer Ras-se heiraten, ist überhaupt nicht klar, was ein "einheimischer Amerika-ner" ethnisch genau ist. (6) Was können wir also un-ter solch einer kollekti-ven , Identität' verste-hen, diesem Gefühl der Zugehörig-keit zu einer Primärgruppe, auf der sie basiert? Ich möchte auf vier Punkte hinweisen. Erstens sind kollektive Identitäten negativ definiert, sozusagen gegen andere. , Wir' erkennen uns als , uns', weil wir anders sind als, sie'. Wenn es ,sie', von denen wir uns unterscheiden, nicht gäbe, müssten wir uns selbst nicht fragen, wer wir sind. Ohne Outsider gibt es keine Insider. Das heißt, kollektive Iden-titäten basieren nicht auf dem, was ihre Mitglieder gemein haben - denn sie haben, bis auf die Tatsache, dass sie' nicht die , Anderen' sind, sehr -wenig gemein. Unionisten und Na-tionalisten in Belfast, oder Serben, Kroaten und Moslems, die sonst un-unterscheidbar wären - sie sprechen die gleiche Sprache, haben die glei-che Lebensführung, sehen gleich aus und verhalten sich ähnlich - sie beharren auf der einen Sache, die sie voneinander trennt, der Religion. Was vereint andererseits eine ge-mischte Bevölkerung als Palästinen-ser, die aus unterschiedlichen Mos-lems, römischen und griechischen Katholiken, griechischen Orthodo-xen und anderen besteht, die einan-der unter anderen Umständen - wie ihre Nachbarn im Libanon - durch-aus bekämpfen könnten? Nur, dass sie keine Israelis sind, woran sie die israelische Politik beständig erin-nert. Natürlich gibt es Kollekti-vität, die sich auf objekti-ve Charakteristika grün-det, welche die Mitglieder gemein haben, etwa das biologische Ge-schlecht oder solche politisch sensi-blen physischen Eigenschaften wie die Hautfarbe. Doch die meisten kollektiven Identitäten erinnern eher an Hemden als an Haut, sie sind, zumindest theoretisch, optio-nal und nicht unentrinnbar. Trotz der gegenwärtigen Mode, unsere Körper zu manipulieren, ist es im-mer noch einfacher, ein anderes Hemd anzuziehen, als einen ande-ren Arm. Die meisten Identitäts-gruppen gründen nicht auf objekti-ve physische Ähnlichkeiten oder Un-terschiede, auch wenn alle gerne be-haupten, sie seien natürlich', so sind sie doch gesellschaftlich kon-struiert. Zweitens folgt daraus, dass Identi-täten im wirklichen Leben aus-, wechselbar sind wie die Kleidung oder eher in Kombinationen getra-gen werden als einzeln und gleich-sam am Körper kleben. Niemand hat, wie jeder Meinungsforscher weiß, nur die eine einzige Identität. Menschliche Wesen müssen selbst für bürokratische Zwecke mit einer Kombination vieler Charakteristi-ken beschrieben werden. Identitäts-politik geht jedoch davon aus, dass eine unter den vielen Identitäten, über die wir alle verfügen, die Poli-tik bestimmt oder zumindest dominiert: das Frausein bei Feministinnen, der protestantische Glaube bei den irischen Unionisten, das Kata-lanische bei den katalanischen Nationalisten, die Homosexualität in der Schwulenbewegung. Und dies bedeutet auch, dass man die ande-ren Identitäten loswerden muss, weil sie nicht mit dem ´wirklichen' Ich kompatibel sind. So ruft der Allzweckideologe und Denunziant David Sebourne "die Juden in Eng-land" entschlossen dazu auf, "auf-zuhören, so zu tun, als seien sie eng-lisch" und anzuerkennen, dass ihre , wirkliche' Identität die der Juden ist. Das ist sowohl gefährlich als auch absurd. Es gibt keine prakti-sche Inkompatibilität, solange kei-ne äußere Autorität den Einzelnen erklärt, sie könnten nicht beides sein, oder solange dies physisch unmöglich ist. Wenn ich gleichzeitig ein frommer Katholik, ein frommer Jude und ein frommer Buddhist sein wollte, warum nicht? Der ein-zige Grund, der mich wirklich da-von abhält, ist der, dass die verschie-denen religiösen Autoritäten mir sagen würden, dass ich diese nicht miteinander vereinbaren kann oder es unmöglich wäre, alle ihre Rituale zu vollziehen, weil sie einander im Weg seien. Normalerweise haben die Men-schen keinerlei Problem, Identitä-ten zu kombinieren, und dies ist na-türlich die Grundlage allgemeiner Politik im Unterschied zu parti-kularistischer Identitätspolitik. Oft-mals treffen die Menschen nicht einmal eine Wahl zwischen Iden-titäten - entweder, weil sie niemand dazu zwingt, oder weil es zu kom-pliziert wäre. Wenn Einwohner der USA dazu aufgefordert werden, ihre ethnische Herkunft anzuge-ben, sind 54% nicht in der Lage dazu oder weigern sich, dies zu tun. Das bedeutet, dass eine ausschlie-ßende Identitätspolitik sich nicht ohne weiteres entfaltet. Sie wird den Menschen vielmehr von außen aufgezwungen - so wie serbische, kroatische und moslemische Ein-wohner Bosniens, die zusammenge-lebt haben und untereinander heirateten, dazu gezwungen wurden, sich zu separieren. Drittens ist zu bemerken, dass Identitäten oder ihre Ausdrucksformen keineswegs festgeschrieben sind, auch wenn sich der Einzelne für eines seiner vielen potentiellen Selbst entschieden hat; so wie Michael Portillo sich dafür entschied, bri-tisch zu sein statt spanisch. Identi-täten verschieben und verändern sich, wenn nötig mehr als einmal.- So können beispielsweise nicht-eth-nische Gruppen, deren Mitglieder, mehrheitlich Schwarze oder Juden sind, sich bewußt in ethnische Gruppen verwandeln. Dies geschah mit der Southern Christian Baptist Church unter Martin Luther King. Das Gegenteil ist ebenfalls möglich, wie sich etwa die offizielle IRA von einer nationalistischen in eine Klas-senorganisation verwandelte, die jetzt als Arbeiterpartei an der Re-gierung der Irischen Republik be-teiligt ist. Die vierte und letzte Anmerkung zur Identität ist, dass sie von einem Kon-text abhängt, der sich verändern kann. Wir können uns alle an die zahlenden, eingetragenen Mitglieder der Schwulenbewegung im Ox-bridge der zwanziger Jahre erinnern, die nach der Wirtschaftskrise von 1929 und dem Aufstieg Hitlers - wie sie selbst sagten - von der Homin-tern zur Comintern kamen. Burgess und Blunt transferierten ihre Homosexualität gleichsam von der öffent-lichen in die Privatsphäre. Oder ru-fen wir uns den Fall des deutschen protestantischen Philologen Pater in Erinnerung, einem Professor der Al-tertumswissenschaften in London, der nach Hitlers Machtergreifung plötzlich entdeckte, dass er emigrie-ren musste, weil er nach den Stand-ards der Nazis ein Jude war - eine Tatsache, die ihm bis zu diesem Mo-ment nicht bewusst war. Wie immer er sich auch zuvor definiert hatte, musste er nun eine neue Identität fin-den. Der Universalismus der Linken Was hat all das mit der Linken zu tun? Identitätsgruppen sind für die Linke sicherlich nicht von außerge-wöhnlicher Bedeutung gewesen. Im Grunde waren die von der amerika-nischen und französischen Revolu-tion und dem Sozialismus inspirier-ten linken Bewegungen Koalitionen oder Gruppenzusammenschlüsse, die jedoch nicht durch gruppenspe-zifische, sondern große universali-stische Ziele zusammengehalten wurden, durch die jede Gruppe glaubte, ihre partikularen Vorstel-lungen verwirklichen zu können. -Demokratie, die Republik, Sozialis-mus, Kommunismus oder was auch immer. Unsere eigene Labour Party ist in ihren großen Zeiten sowohl eine Klassenpartei als auch eine Partei der nationalen Minderheiten und Immigrantengemeinschaften des britischen Festlandes gewesen'. Sie war all dies, weil sie eine Partei der Gleichheit und der sozialen Ge-rechtigkeit gewesen ist. Der Anspruch, als Klassen-organisation aufzutreten, darf jedoch nicht missverstanden werden. Die politische Arbeiter- und sozialistische Bewegung war niemals und nirgends allein auf das Proletariat im strikt marxisti-schen Sinne beschränkt. Außer in Großbritannien hätten sie gar nicht zu so großen Bewegungen werden können, weil in den achtziger und neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, als sozialistische und Arbeiterparteien auftauchten wie Hyazinthenfelder im Frühling, die industrielle Arbeiterklasse in den meisten Ländern eine ohnmächtig kleine Minderheit gewesen ist und trotz alledem ein großer Teil davon außerhalb der sozialistischen Ar-beiterorganisationen verblieb. Man muss sich daran erinnern, dass zur Zeit des Ersten Weltkrieges die So-zialdemokraten - wie in Deutsch-land - 30% bis 47% der Wähler in Ländern wie Dänemark, Schweden und Finnland ausmachten, die kaum industrialisiert waren. Die höchste jemals erreichte Stimmen-zahl der Labour Party in diesem Land lag 1951 bei 48%. Darüber-hinaus ist die sozialistische Ober-zeugung von der Bedeutung der Ar-beiter in ihrer Bewegung kein par-tikularistisches Ziel gewesen. Ge-werkschaften vertraten die Partiku-larinteressen der Lohnabhängigen, aber einer der Gründe für die im-mer problematischen Beziehungen zwischen Arbeiter, und sozialisti-schen Parteien sowie den mit ihnen assoziierten Gewerkschaften hing damit zusammen, dass die Ziele der Bewegung weiter gefaßt waren als -die der Gewerkschaften. Die sozia-listische Argumentation ging kei-neswegs bloß dahin, dass die mei-sten Menschen , Arbeiter der Hand oder des Kopfes' seien, sondern die Arbeiter notwendig das historische Subjekt für die Veränderung der Gesellschaft waren. So mußte jeder, wo auch immer, der die Zukunft wollte, mit der Arbeiterbewegung gehen. Wenn andererseits die Arbeiterbe-wegung sich verengte und zu nichts anderem als einer Interessenvertre-tung, einer partikularistischen Be-wegung der Industriearbeiter wurde, wie in den siebziger Jahren in Groß-britannien, dann verlor sie sowohl die Fähigkeit, das potentielle Zen-trum einer allgemeinen Mobilisie-rung der Menschen zu sein, wie sie auch nicht mehr die Hoffnung auf die Zukunft repräsentierte. Militan-te , ökonomistische' Gewerkschaf-ten haben sich Menschen, die nicht direkt eingebunden waren, in einem solchen Ausmaß zu ihren Gegnern gemacht, dass damit dem Toryismus von Margaret Thatcher das überzeu-gendste Argument an die Hand ge-geben wurde - wie auch die Legiti-mation, die traditionelle Einheits-partei der Tories in eine Kraft zu ver-wandeln, die einen militanten Klas-senkampf führte. Die proletarische Identitätspolitik isolierte die Arbei-terklasse nicht nur, sondern spaltete sie auch noch, indem Gruppen von Arbeitern gegen andere gestellt wur-den. Was hat also Identitätspo-litik mit der Linken zu tun? Ich möchte kurz festhalten, was eigentlich nicht wie-derholt zu werden braucht. Das po-litische Projekt der Linken ist uni-versalistisch: Es richtet sich an alle menschlichen Wesen. Wie immer wir diese Formulierung auch interpretieren, sie meint nicht die Frei-heit für Aktionäre oder Schwarze, sondern für jeden. Es ist dies nicht die Gleichheit der Mitglieder des Gattick Club oder der Behinderten, sondern die Gleichheit aller. Es ist nicht die Brüderlichkeit ehemaliger Eaton-Schüler oder der Schwulen, sondern aller. Identitätspolitik rich-tet sich niemals an alle, sondern nur an Mitglieder einer bestimmten Gruppe. Dies wird im Fall ethni-scher oder nationalistischer Bewe-gungen ganz offensichtlich... Die nationalistische Behauptung, dass man für das Selbstbestimmungs-recht aller sei, ist Schwindel. Darum kann die Linke sich nicht auf Identitätspolitik stützen, sie hat ein weiter-reichendes Programm. Für die Linke ist Irland geschichtlich eine der vie-len ausgebeuteten, unterdrückten und zu Opfern gemachten Gesell-schaften gewesen, für die sie ge-kämpft hat. Für den IRA-Nationa-lismus ist die Linke nur in bestimm-ten Situationen ein möglicher Ver-bündeter im Kampf für seine Ziele. In anderen Situationen war man be-reit, um die Unterstützung Hitlers zu bitten, wie es einige der politischen Führer im Zweiten Weltkrieg getan haben. Und dies trifft auf jede Grup-pe zu, die Identitätspolitik zu ihrer Basis macht, ob ethnisch oder anders begründet. Die breiten Ziele der Linken führen natürlich dazu, dass viele Identitätsgruppen zumindest zeitweise unterstützt werden und diese in der Folge auf die Linke rechnen. Einige dieser Allianzen sind so eng und so alt, dass die Linke überrascht ist, wenn sie enden; so wie Menschen sich wundern, wenn Ehen nach vielen Jahren enden. In den USA scheint es unnatürlich zu sein, dass die , Eth-nics", das heißt, die Gruppen der armen Masseneinwanderer und ih-rer Nachkommen, nicht mehr auto-matisch die Demokratische Partei wählen. Es scheint fast unglaublich, dass ein schwarzer Amerikaner auch nur darüber nachdenkt, sich für die Präsidentschaft der USA als Repu-blikaner - ich denke an Colin Powell - zu bewerben. Und dennoch stel-len sich die gemeinsamen Interessen der irischen, italienischen, jüdischen und schwarzen Amerikaner in der Demokratischen Partei nicht wegen ihrer partikularen Ethnien her, auch wenn realistische Politiker ihnen Respekt zollten. Was sie zusammen-brachte, war die Sehnsucht nach Gleichheit und sozialer Gerechtig-keit und ein Programm, mit dem bei-des verwirklicht werden sollte. Das gemeinsame Interesse Viele Linke vergessen das, wenn sie kopfüber in die tiefen Wasser der Identitätspolitik eintauchen. Seit den siebziger Jahren hat es eine verstärk-te Tendenz gegeben, die Linke vor allem als Koalition von Minderhei-ten- und Interessengruppen zu se-hen: der Rasse, des Geschlechts, se-xueller oder anderer kultureller Prä-ferenzen und Lebensstile, selbstöko-nomische Minderheiten wie die alte Mach-Dir-die-Hände-schmutzig-In-dustriearbeiterklasse kamen hinzu. -Dies ist verständlich, aber auch deshalb gefährlich, weil die Addition von Minderheiten nicht mit dem Ge-winn von Mehrheiten zu verwech-seln ist. Ich möchte zunächst wiederho-len, dass Identitätsgruppen für und' von sich selbst handeln und für niemanden sonst. Eine Koalition solcher Gruppen wird nicht von ei-nem Geflecht gemeinsamer Ziele und Werte zusammengehalten, son-dern bildet eher eine ad hoc-Einheit wie zeitweise alliierte Staaten im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind. Sie zerbrechen, wenn sie nicht länger auf diese Weise zusammen-gehalten werden. Sie sind auf je-den Fall als Identitätsgruppen nicht der Linken als solcher verpflichtet, sondern suchen lediglich Unterstüt-zung für ihre Ziele, wann immer möglich. Wir sehen die Emanzipati-on der Frauen als ein eng mit der Linken zusammenhängendes Ziel, was auch seit den Anfängen des So-zialismus schon vor Marx und En-gels der Fall gewesen ist. Dennoch ist die britische Bewegung für das Frauenwahlrecht vor 1914 eine Be-wegung aller drei Parteien gewesen (7) und die erste Frau im Parlament war, wie wir erinnern, bei den To-ries... Hieraus ergeben sich zwei pragma-tische Gründe gegen Identitätspoli-tik. Unter normalen Umständen, ohne Zwang oder Druck von außen, mobilisiert solche Politik kaum mehr als eine Minderheit selbst innerhalb der Zielgruppe. Darum sind die Versuche, unabhängige Frauen-parteien zu gründen, keine sehr ef-fektive Form zur Mobilisierung von Frauenstimmen gewesen. Ein weite-rer Grund liegt darin, dass die Menschen gezwungen werden sollen, eine und nur eine Identität anzunehmen, die sie von allen anderen ab-schneidet und diese Minderheiten isoliert. Konsequenterweise ist daher der Är-ger nicht weit, wenn eine allgemeine Bewegung auf die spezifischen Forderungen von Intereressensgruppen der Minderheiten ausgerichtet werden soll, die nicht denen der Wähler-schaft entsprechen. Dies ist in den USA sehr viel offensichtlicher, wo der Rückschlag gegen die Program-me positiver Diskriminierung zu-gunsten von Minderheiten [z.B. affi-mative action, Anm.d.Red.] ... sehr stark geworden ist. Aber auch hier besteht dieses Problem. Heute haben sowohl die Rechte wie auch die Linke auf Identitätspo-litik aufgesattelt. Unglücklicherwei-se ist die Gefahr, zu einer reinen Al-lianz von Minderheiten zu zerfallen, auf der Linken besonders groß, weil die bedeutenden universalistischen Leitmotive der Aufklärung, die wichtige Vorstellungen der Linken darstellten, geschwächt sind und die Möglichkeit verstellt ist, gemeinsa-me Interessen über partikularisti-sche Grenzen hinweg zu formulie-ren. Die einzige der sogenannten , neuen sozialen Bewegungen', wel-che diese Grenzen überschreitet, ist die der Umweltschützer. Aber ihre politische Kraft ist begrenzt, und das wird sich wahrscheinlich nicht än-dern. Dennoch gibt es eine Form der Identitätspolitik~ die umfassend ist, weil sie auf einer gemeinsamen For-derung. gründet, zumindest inner-halb der Begrenzungen eines einzel-nen Staates: den staatsbürgerlichen Nationalismus. Aus globaler Per-spektive mag dies sich ausnehmen wie das Gegenteil einer universali-stischen Forderung, aber aus_ der Perspektive des Nationalstaats, wo immer noch die meisten von uns leben und wahrscheinlich weiterhin leben werden, schafft er selbst eine gemeinsame Identität, eine "einge-bildete Gemeinschaft" in Benedict Andersons Worten, die jedoch trotz ihrer Einbildung nicht weniger real' ist. Die Rechte hat ständig bean-sprucht, dieses Feld zu monopo-lisieren und ist immer noch in der Lage, es zu manipulieren. Selbst der Thatcherismus, der - Totengräber des Einheits-Toryismus hat es ver-mocht. Warum ist es dann so schwierig für die Linke gewesen - zumindest für die Linke in englischsprachigen Län-dern -, sich selbst als Repräsentanz der gesamten Nation zu sehen? (Ich spreche natürlich von der Nation, als der Gemeinschaft aller Menschen in einem Land und nicht von einer eth-nischen Einheit.) Warum ist es so schwer gewesen, auch nur den Ver-such in diese Richtung zu unterneh-men? Immerhin begann die europäi-sche Linke als eine Klasse oder eine Klassenallianz. Der dritte Stand in den französischen Generalständen von 1789 entschied, sich selbst zu , der Nation' gegen die Minderheit der herrschenden Klasse zu erklären und schuf dadurch das Konzept der politischen , Nation'. Selbst Marx faßte solch eine Transformation im Kommunistischen Manifest ins Auge. (8) Man könnte noch weiterge-hen. Todd Gitlin,' einer der besten Beobachter der amerikanischen Lin-ken, hat das auf dramatische Weise in seinem neuen Buch The Twilight of Common Dreams getan: "Was ist eine Linke, wenn sie nicht wenigstens glaubhaft die Stimme des gesamten Volkes ist? ... Wenn es kein Volk gibt, sondern nur Völker, dann gibt es keine Linke (9) Entnommen aus: aus Perspektiven, Internationale StudentInnenzeitung, Frankfurt, Nr. 33 / Mai 1998, S. 25-28, nach einer leicht gekürzten Übersetzung aus der Ausgabe Nr. 217 der NEW LEFT RFVIEW 1 M. L. Pradelles de Latou: "ldentity as a Complex Network",-in: Minorities: Community and Identity, C. Fried (Hg.), Berlin 1983, S. 79. 2 ebd. S. 91. 3 Daniel Bell: "Ethnicity and Social Change", in: Ethnicity: Theory and Experience, hrsg. v. Nathan Glazer und Daniel P. Moynihan, Cambridge, Massachusetts 1975, S. 171. 4 E. j. Hobsbawm: Tbe Age of Extremes. The Sbort Ttventieth Century, 1914- 1991, London 1994, S. 428. In deut-scher Übersetzung von Yvonne Bada erschienen unter dem Titel: Das Zeit-alter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts im Hanser Verlag. 5 0. Patterson: "lmplications of Ethnic Identification", in: Minorities: Community' and Identity, S. 28-29. 6 Todd Gitlin: The Twilight of Common Dreams, New York 1995, S. 162, 109. 7 Jihang Park: "The British Suffrage Activists of 1913", in: Past & Pre-sent, No. 120, Aug. 1988, S. 156f. 8 "Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie." Karl Marx und Fried-rich Engels: Maifest der Kommunisti-schen Partei, Marx/Engels Werke, Bd; 4,S.479. 9 Todd Gitlin: The Twilight.. S. 165.