/ Vision 2010: Die Freiheit nehm ich mir (Wintercheck) /

Theaterstück von ATTAK (Autonomes temporäres Theater aus Köln)

Das folgende ist das Skript für das auf der Auftaktkundgebung am 19.3. aufgeführte Theaterstück zu autoritärer Formierung. In rot sind die hochgehaltenen Schilder angemerkt, in blau verarbeitete Originalzitate aus dem Aufruf.

Erster Akt

Charaktere:
Herr Mustermann - rechtspopulistischer Bürger
C.G. Freudlos - Therapeut

Th.: Guten Tag, Herr Mustermann! Dr. Freudlos mein Name, C.G. Freudlos.

B: Guten Tag, Doktor Freudlos!

Th.: Wie kann ich Ihnen behilflich sein?

B.: Habe so angst, kann nachts nicht schlafen. Junkies, Schwarzfahrer, Klau-Kids, Trickdiebe.

Th.: Und was tun sie dagegen? [ressourcenorientiert fragen!]

B: Ach, ich weiß es auch nicht, man hat ja schon alles versucht. Wir haben eine Bürgerversammlung einberufen, ProKöln angeschrieben und letzten September habe ich dann sogar FDP gewählt. Deren Plakate sahen so aus, als würden die mal was tun. Die Polizei rufe ich fast täglich. Die kommen aber nicht immer. Jetzt mit diesem Wintercheck, das macht schon was her. Gestern haben die einen erwischt, der war Illegal. Solche Leute gehören aus dem Verkehr gezogen, genau wie die ganzen nicht angegurteten Autofahrer. Aber leider hat die Polizei wohl nicht genug Geld und Personal.

Th.: Nein, nein, Herr Mustermann. Sie haben mich da falsch verstanden - die Frage war nicht, was sie gegen DIE PERSONEN tun, vor denen sie Angst haben, sondern was sie gegen ihre Ängste tun. [Projektion?]

B: Verstehe ich nicht.

Th.: Naja, nicht so sehr, "vor wem", sondern warum haben sie denn eine solche Angst?

B: Man ist ja heute einfach nicht mehr sicher. Was man da so jeden Tag in der Zeitung liest, was man so hört... Da traut man sich einfach nicht mehr auf die Straße. Es wird halt alles immer schlimmer! Mein Bekannter hat mir erzählt, dass die Arbeitskollegin seiner Frau letztens eine Spritze im Mülleimer neben der Parkbank da hinten an Kalk Kapelle gesehen hat. Wenn man da reinpackt, ist es aus! Die kommen ja zu Tausenden hier rein, wollen gar nicht arbeiten, sondern nur Verbrechen begehen! [Ich-Botschaften senden!]

Th.: tut mir leid, aber Ihre Sorgen ernst zu nehmen würde heißen, die von Ihnen ersponnene Bedrohung zu glauben. Sie leiden offensichtlich an autoritärer Formierung im fortgeschrittenen Stadium. Das steht dem Verein freier Menschen im Wege. [autoritäre Formierung]
Ich stelle ihnen mal eine Überweisung aus für den Infoladen. Dort erfahren Sie mehr über Ihre Störung und was genau dieses Syndrom ausmacht. Unsere SachbearbeiterInnen dort helfen Ihnen dann weiter. Und zur Einübung ordnungswidrigen Verhaltens gehen sie ab sofort bitte zweimal täglich über eine rote Ampel. Ich stelle Ihnen zusätzlich noch ein Rezept über die ersten drei Bände des Kapitals aus. Davon sollten Sie täglich eine angemessene Dosierung nach jeder Mahlzeit einnehmen. Das Kapital erhalten sie übrigens auch im Infoladen. [Applaus]

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Zweiter Akt

Charaktere:
C.G. Freudlos - Therapeut
Anna Ski - Linkspopulistin aus der Demovorbereitung

Th.: Guten Tag, was führt sie zu mir?

L.: Ich kann gar nicht so viel fressen wie ich kotzen möchte!!!

Th.: Ah, Bulimie. Und was ist es denn, was sie so bedrückt?

L.: Na, gucken sie sich doch einmal um: die Reichen werden immer reicher und die Armen verhungern. Und ich als kleiner Kiffer von nebenan muss immer vorsichtiger sein. Kalk wird aufgewertet. Die Yuppies ziehen nach Kalk und die Junkies und MigrantInnen werden vertrieben. [Gentrification für Dummies]

Th.: Wohnen Sie in Kalk?

L.: Ja klar. Kalk bleibt dreckig!

Th.: Ah ja, und wo wohnen Sie da?

L.: Naja, wir haben hier ein Wohnkollektiv gegründet direkt an Kalk Post. Ist zwar gerade erst die Miete erhöht worden, aber wir sind 4 Leute in der WG und dann geht das auch. Die türkische Familie, die hier vorher gewohnt hat, konnte das wohl nicht mehr bezahlen. Das macht mich aber auch irgendwie betroffen.

Th.: Sie sind betroffen, dass die Familie von Ihnen verdrängt wurde?

L.: Wieso von mir? Ich plane doch nicht die Aufwertung des Stadtteils. Das sind doch diese gewissenlosen Technokraten von da oben. Wer das Geld hat, hat doch die Macht. Da ist jawohl auch eine andere Welt möglich. Nieder mit der Gewalt des Kapitals! Anarchosyndikalismus ist nämlich ein Messer, müssen Sie wissen.

Th: Hä?

L: Na, da haben ein paar die Fäden in der Hand und beklauen uns.

Th.: Ach so, Sie sehen da also dunkele Mächte am Werk, die aufgrund ihres schlechten Charakters und ihrer Niederträchtigkeit des Nachts nur dann gut schlafen können, wenn es ihrem Klassenfeind - also unter anderem Ihnen - so schlecht wie möglich geht. Darf ich schon zu diesem frühen Zeitpunkt unseres Gesprächs die Vermutung äußern, dass Ihre Analyse zu Personifizierungen neigt und strukturelle Bedingungsfelder auszuklammern scheint? [Es ist die Systematik - es ist das System!]

L.: Was mich besonders wütend macht, ist, dass hier täglich die Schergen in unseren multikulturellen Kiez einreiten. [Faktenresistenz]

Th.: Die Schergen?

L.: Ja, die Bullen, diese Marionetten, die für die Bonzen ihren Kopf hinhalten! Eine kleine Kaste von verkommenen Industriellen und PolitikerInnen lebt auf unsere Kosten als kleiner Mann. Wir müssen an der kurzen Leine gehalten werden, damit wir unsere Kritik an den herrschenden Verhältnissen nicht offen auf die Straße tragen..

Th.; Ja, hmm. Ich hatte hier gerade so einen kleinen Mann, wie sie sagen, aus ihrem sogenannten multikulturellen Kiez, wie sie das nennen. Der war für mehr Polizei, für weniger Junkies und mehr Kontrollen.

L.: Ja der wird ja von den Medien manipuliert!

Th.: Interessante Idee. Und wer kontrolliert die Medien?

L.: Na, die Bonzen, die Banken und Konzerne.

Th.: Die Medien sind also selbst auch manipuliert?

L.: Na Logo.

Th.: Und Sie sind aber ein freier Mensch? Oder sind sie auch manipuliert?

L.: Ne, ich bin frei. Also relativ. Äh, also, die Freiheit nehm ich mir. Oder so.

Th.: Aha, sonst noch wer?

L.: Naja, meine Genossinnen und Genossen. Unsere selbstverwalteten Zentren, unsere Freiräume.

Th.: Und Sie und ihre Freunde befreien dann die ganzen anderen?

L.: Ja.

Th.: Also, sie scheinen ja ein schwieriger Fall zu sein. Sie haben da ein paar richtige Ansätze. aber Ihr chronisches Schwarz-Weiss-Denken führt völlig unnötigerweise dazu, dass Sie Ihre eigene Verstrickung in die schlechten Verhältnisse auf eine handvoll Schuldige projizieren. Und das schlägt Ihnen auf den Magen. Vielleicht üben wir einmal gemeinsam das ganze Spiel in Frage zu stellen, statt einzelne Mitspieler zu denunzieren. [Wat 'n' Schwätzer]

L.: Verstehe ich nicht.

Th: Ne? ja dann können Sie auch jemanden anrufen der/die Ihnen da weiterhilft. Oder vielleicht ein Publikumsjoker

L: Äh, ich glaube, ich nehm den Publikumsjoker! [Applaus!]